Psychopharmaka - ein No-Go? Eine Replik zum Artikel "Bittere Pillen"
- PD Dr. Stefanie Riemer

- 30. Nov.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Dez.

Letzte Woche ging in sozialen Medien ein Artikel um mit dem Titel „Bittere Pillen - Warum wir aufhören sollten, Hunden Psychopharmaka zu verabreichen“ , der eindringlich vor der Anwendung von Psychopharmaka bei Hunden warnte und sich dabei auf Studien zu Antidepressiva beim Menschen bezog. Gerade vor Silvester ein kritisches Thema, daher möchte ich in dieser Stellungnahme die Darstellung aus dem Artikel wissenschaftlich einordnen.
Denn der Beitrag hat bei mir etliche Fragen aufgeworfen, was die die logische Herleitung der Schlussfolgerungen betrifft, aber auch die Auswahl der zitierten Studien.
Kann es sinnvoll sein, VERSCHIEDENSTE WIRKSTOFFE für den KURZ- und LANGFRISTIGEN Einsatz in einen Topf zu werfen und Schlussfolgerungen für ALLE zu ziehen?
Können wir von Meta-Analysen zu EINER Medikamentenklasse (Antidepressiva) für EINE Indikation (Depression) in EINER Art (Mensch) ableiten, dass ALLE Medikamentenklassen für ALLE Indikationen und ALLE Tierarten kontraproduktiv sind?
Ergibt es wirklich Sinn, aus HUMANSTUDIEN zu DEPRESSION die Schlussfolgerung ziehen, dass ALLE Medikamente, die für die Indikation ANGST bei Hunden verwendet werden, schädlich sind?
Wenn wir schon von Menschen auf Hunde schließen, bei Hunden Psychopharmka aber in den meisten Fällen aufgrund von Angst und nicht für Depression verschrieben werden – warum wird nicht die NEUESTE META-ANALYSE zu ANGST zitiert, anstatt sich auf Depression zu versteifen, obwohl Depressionen bei Hunden wohl in seltensten Fällen medikamentös behandelt werden?
Müller et al. (2025). Comparative efficacy and acceptability of anxiolytic drugs for the treatment of anxiety disorders: a systematic review and network meta-analysis. European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience, 1-16.
Zitat: Analysis of 100 trials involving 28,637 participants showed that most active drugs were more effective than placebo in reducing anxiety.
Es ist vollkommen richtig, dass langfristige Anwendung von Benzodiazepinen kontraindiziert ist. Diese Info ist auch schon seit langem bei Fachpersonen in Psychiatrie und Tierverhaltensmedizin angekommen. Zumindest kenne ich keine:n Verhaltensmediziner:in, der/ die Benzodiazepine für den langfristigen Einsatz verschreiben würde, und ich habe auch schon einige Fortbildungen von Verhaltenstierärzt:innen zu dem Thema besucht. Für den kurzfristigen Einsatz (z.B. einmalig in der Silvesternacht) bestehen diese Risiken nicht! Auch die Langzeitfolgen sind daher kein Argument, das pauschal gegen die Verwendung von Psychopharmaka spricht.
Als Beispiel für die geringe Evidenz für die Effektivität von Psychopharmaka bei Hunden wird Gabapentin angeführt – womit ich absolut konform gehe.
Jedoch wird ignoriert, dass es durchaus placebo-kontrollierte uns verblindete Studien zu Medikamenten anderer Wirkstoffklassen gibt, mit positiven Effekten (siehe unten).
Psychopharmaka sollten niemals leichtfertig verschrieben werden, weder bei Mensch noch Tier. Selbstverständlich steht am Beginn JEDER verhaltensmedizinischen Konsultation eine gründliche körperliche Untersuchung mit Blutbild, Schmerzabklärung usw. und gegebenenfalls Behandlung des gesundheitlichen Problems. Wenn nach eingehenden Abwägen aller Pros und Kontras ein Medikament durch einen Tierarzt/ eine Tierärztin mit Spezialisierung auf Verhaltensmedizin für sinnvoll erachtet wird, ist dies in den allermeisten Fällen eine vorübergehende Unterstützung (zum Beispiel für einige Monate).
Sehr häufig auch nur in Akutfällen, z.B. einmalig in der Silvesternacht, oder auch z.B. bei Hunden, die Panik vor einem Tierarztbesuch haben. Die wenigsten Hunde sind lebenslang auf Psychopharmaka angewiesen, denn Verhaltensmediziner:innen und viele Trainer:innen sind sich einig, dass Medikamente nur ein Baustein der Therapie sein können und Anpassung der Umwelt und Training mit dem Hund der Schlüssel sind für eine erfolgreiche Therapie.
Wenn jeder in einem Chalet in den Schweizer Bergen wohnen würde, wäre Management wie die absolute Vermeidung von Situationen, welche Stress auslösen und langsame Heranführung an diese Situationen und Vorbereitung darauf in anderen Kontexten die erste Wahl. Doch die Lebensrealität von vielen Hunden und Menschen sieht einfach anders aus. Ein Umzug in ein Bergdorf ist selten eine realistische Option, und viele Menschen haben noch andere Verpflichtungen als Hund/e und Partner/in, finanzielle Einschränkungen etc. – und doch lieben sie ihr hündisches Familienmitglied!
Wenn ein Hund generalisierte Ängste zeigt oder mit Aspekten seiner Umwelt momentan überfordert ist, kann eine (vorübergehende) medikamentöse Unterstützung ein wichtiges Werkzeug sein, um die Lebensqualität des Hundes zu verbessern und in manchen Fällen Lernerfolge (insbesondere auch die Konsolidierung des Gelernten) zu ermöglichen.
Psychopharmaka können manchen Hunden Panik und (re-)traumatisierende Erfahrungen ersparen (z.B. im Tierarzt-Kontext) oder es ihnen zu ermöglichen, von einem dauerhaft hohen Stresslevel herunter zu kommen, um überhaupt neue Lernerfahrungen machen und abspeichern zu können.
In einer Studie von Gruen et al. (2020) kam z.B. heraus, dass mit wiederholten Gewittern oder anderen Lärmereignissen unter Einfluss von Sileo immer weniger des Medikaments notwendig wurde, vermutlich weil die Hunde lernen konnten, dass Gewitter nicht so gefährlich sind wie ursprünglich empfunden. Noch viel effektiver wäre es natürlich gewesen, zudem eine Gegenkonditionierung durchzuführen und aktiv für positive Emotionen zu sorgen (vgl. Riemer, 2020) zur Effektivität der ad hoc Gegenkonditionierung).
Daher - weil es gerade aktuell ist: die kurzfristige Gabe von Medikamenten zu Silvester kann die Lebensqualität von Hunden mit Geräuschpanik wesentlich verbessern und negative Lernerfahrungen verhindern.
Hier eine Zusammenfassung der relevanten Studien zum Thema Geräuschangst:
Die Wirksamkeit von Sileo® (Korpivaara et al, 2017) und Pexion (Engel et al, 2019) wurde durch placebokontrollierte, doppelverblindete klinische Feldstudien demonstriert. Für beide Medikamente berichteten mehr als zwei Drittel der Halter:innen deren Hunde Sileo bzw. Pexion erhielten von eine gute bis ausgezeichnete Wirkung des Arzneimittels während des Silvesterfeuerwerks – doppelt so viele wie in den Placebogruppen (Engel et al, 2019; Korpivaara et al, 2017).
Eine kleinere Studie verglich die Wirkungen von Trazodon mit der von Sileo® an Silvester (keine Placebogruppe) und fand, dass beide Medikamente wirksam waren. Allerdings waren die Reduktion der Angstwerte und die Zufriedenheit der Besitzer signifikant größer für Trazodon (87,5 % der Besitzer zufrieden) als für Sileo® (61,1 % der Besitzer zufrieden) (Harting et al, 2018).
Es gibt sogar Hinweise darauf, dass die wiederholte Verabreichung von Sileo® während verschiedener Arten von Lärmereignissen es Hunden ermöglichte, besser mit dem Lärm umzugehen, sodass die Verwendung der Medikation reduziert werden konnte (Gruen et al., 2020).
In einer doppelverblindeten Cross-over-Studie war Gabapentin mit signifikant niedrigeren Angstwerten während Gewittern bei Hunden assoziiert, obwohl drei von achtzehn Probanden höhere Angstwerte unter Gabapentin hatten als bei Verabreichung eines Placebos (Bleuer-Elsner et al., 2021). (Ja – ich finde die Verwendung von Gabapentin – zumindest als alleinige Medikation – auch nicht sonderlich zielführend).
Fazit: Der Einsatz von angstlösenden Medikamenten sollte gut abgewogen werden, und eine medikamentöse Behandlung führt selten alleine zum Erfolg. Jedes Medikament kann Nebenwirkungen haben. Doch wenn Management und Training (noch) nicht ausreichen, um starke Ängste und Panikreaktionen zu verhindern, kann medikamentöse Unterstützung das Wohlbefinden und die Lebensqualität des betroffenen Hundes verbessern.
Wichtig: das Gehirn ist viel zu komplex, um es auf einfache Erklärungen wie „Serotoninmangel“ hinterzubrechen. Daher kann es auch tatsächlich zum Teil Versuch und Irrtum sein, welches Medikament bei welchem Tier wirkt und welche Dosierung optimal ist. Wie die Verhaltensmedizinerin Dr. Karen Overall sagt „It is not a drug for a condition. It is THAT dog, THAT cat“. Daher verweise ich auch immer auf ausgebildete Verhaltensmediziner:innen, denn sie haben die relevanten Erfahrungen – oft ist auch eine Kombination aus zwei Medikamenten effektiver (Simpson and Papich, 2003).
Ist dein Hund auch von (Geräusch-)Angst betroffen? Dann lade dir mein 0€ Ebook zu Angst beim Hund herunter, informiere dich darüber, was wirklich bei Geräuschangst hilft im Webinar, oder sei dabei im Kurs "Wege aus der Angst - Angst beim Hund verstehen und überwinden".
Quellen
Bleuer-Elsner, S., Medam, T., Masson, S., 2021. Effects of a single oral dose of gabapentin on storm phobia in dogs: A double-blind, placebo-controlled crossover trial. Veterinary Record 189, no-no.
Engel, O., Müller, H.W., Klee, R., Francke, B., Mills, D.S., 2019. Effectiveness of imepitoin for the control of anxiety and fear associated with noise phobia in dogs. Journal of Veterinary Internal Medicine 33, 2675–2684.
Gruen, M., Case, B.C., Robertson, J.B., Campbell, S., Korpivaara, M.E., 2020. Evaluation of repeated dosing of a dexmedetomidine oromucosal gel for treatment of noise aversion in dogs over a series of noise events. Veterinary Record 187, 489–489.
Harting, T.P., Bach, J.-P., Nolte, I., 2018. Efficacy and safety of dexmedetomidine and trazodone for the prophylaxis of acute noise phobia in dogs on New Year’s Eve: a prospective, randomised trial. Kleintierpraxis 63, 704–713.
Korpivaara, M., Laapas, K., Huhtinen, M., Schöning, B., Overall, K., 2017. Dexmedetomidine oromucosal gel for noise-associated acute anxiety and fear in dogs—a randomised, double-blind, placebo-controlled clinical study. Veterinary Record 180, 356.
Müller et al. (2025) Comparative efficacy and acceptability of anxiolytic drugs for the treatment of anxiety disorders: a systematic review and network meta-analysis. European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience 1–16.
Riemer, S., 2020. Effectiveness of treatments for firework fears in dogs. Journal of Veterinary Behavior - Clinical Applications and Research 37, 61–70.
Simpson, B.S., Papich, M.G., 2003. Pharmacologic management in veterinary behavioral medicine. Veterinary Clinics: Small Animal Practice 33, 365–404




Kommentare